Gedanken zur Entwicklung der "Spuren" von 1997

Am Anfang stand die Idee, ein Stück Internet-Literatur über Internet-Literatur zu schreiben. Das heißt, etwas, was zugleich Theorie und Praxis sein sollte. Und gleichzeitig wollten wir die neuen Möglichkeiten der Internet-Literatur ausprobieren, ausreizen, ja erst erfinden.

Das Ziel war, ein internetliterarisches Geflecht zu schaffen, ein literarisches Spiel, das das Wesen der Internet-Literatur erfahrbar machen sollte.

Die Frage war: Was kann ich machen mit Bildern und Hyperlinks und Worten?

So entstanden die "Spuren". Die Verwirrung, die beim Lesen entstehen mag, ist nicht unbeabsichtigt. Sie illustriert eine Eigenschaft, die Internet-Literatur meiner Meinung nach hat: sie ist labyrinthisch. Es gibt (fast) unendlich viele Pfade. Jede LeserIn schlägt andere ein und sucht sich einen eigenen Weg durch die Geschichte. Und macht ihre eigenen Interpretationen.

Die Spuren sind gleichzeitig nebeneinanderher laufende und sich manchmal auch begegnende Perspektiven - und die LeserInnen können eine Perspektive wählen oder alle ausprobieren.

Bilder und damit die Text-/Bildbeziehung spielen eine wichtige Rolle. Einerseits entwickeln sich beim Schreiben sehr viele Bilder - andererseits beeinflussen diese Bilder das Schreiben:  sowohl die Sprache als auch den Inhalt.

Jede Spur hat ein Grundbild, ein Symbol, das bei der Gestaltung des Hintergrunds verwendet wird. Diese Gestaltung und die Verwendung einzelner Bilder sollen auch bei den LeserInnen etwas auslösen, sollen eine Atmosphäre schaffen, eine Welt entstehen lassen - und das Gesamtwerk damit sinnlicher erfahrbar machen, als ein Buch das könnte.

Die Bilder sind als physikalisches Bild (also als sichtbares "gif" oder "jpg") vorhanden und/oder sie erscheinen als sprachliche Metapher und bestimmen die ästhetische Gestaltung im Ganzen.
Beispiele sind das Labyrinth und die Savanne als "reales" Bild und als Metapher: durch diese Bilder sind die verschiedenen Spuren miteinander vernetzt.
Das Ausgangsbild der jeweiligen Spur ist als reales Bild vorhanden und bestimmt die Hintergrundgestaltung. Diese ist Wegweiser, Ästhetik und stellt eine subtile Text-/Bild-Beziehung her.

Die Verknüpfungen in dieser Rhizomstruktur sind zum Teil assoziativ, erfolgen aber meistens über ein Bild: die Savanne, der Regenbogen, die Stadt, die Bibliothek - und alle zusammen ergeben ein Bild der Internet-Literatur, wie ich sie sehe. Und das nenne ich Cyberprosa.

Es ist zu hoffen, dass LeserInnen das Wesen der Internet-Literatur erfassen können, indem sie diesen Wegen folgen. Die Geschichte hat bewusst auch offene Stellen, die freien Raum lassen für eigene Interpretationen, eine Geschichte, die auch weitergesponnen werden könnte, die aber ganz sicher im Kopf des Lesers, der Leserin weitergedacht und zusammengesetzt werden muss und dadurch - so hoffe ich - jedesmal wieder ein ganz eigenes Leben bekommt. Vieles bleibt offen und bietet den LeserInnen Raum für eigene Träume.

Direkt zur Labyrinthdichtung "Spuren"